Rettet der 2. Senat den Rechtsstaat? – Ernüchterndes zur V-Mann-Problematik

von Dr. Klaus Malek, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht, Freiburg
(Der nachfolgende Text basiert auf einem Vortrag, den der Verfasser am 29.Januar 2016 auf dem u.a. von den Universitäten Frankfurt und Erlangen-Nürnberg sowie der Zeitschrift „Strafverteidiger“ veranstalteten „Frankfurter Symposium zum Betäubungs- und Arzneimittelstrafrecht“ gehalten hat. Der Vortragsstil ist weitgehend beibehalten.)

I. Einleitung

Mit seinem Urteil vom 10. Juni 2015* hat der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs erstmals ein Verfahrenshindernis bei Vorliegen einer „rechtsstaatwidrigen Tatprovokation“ angenommen und das Verfahren eingestellt. In erster Instanz waren die Revisionsführer vom Landgericht Bonn noch wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu Freiheitsstrafen von 3 Jahren und 9 Monaten verurteilt worden. Die Revisionsentscheidung hat allenthalben Lob und Zuspruch erfahren; sogar von einer „Kehrtwende“ in der Rechtsprechung war die Rede.

* BGH, Urt. v. 10.06.2015 – 2 StR 97/14 – NJW 2016, 91 ff. m. Anm. Eisenberg = HRRS.

Ich kann nicht umhin, einen kräftigen Schluck Wasser der Ernüchterung in den süßen Wein der Euphorie über ein Urteil zu gießen, das alle, die sich mit dem Betäubungsmittelstrafrecht befassen, aus der Lethargie der so lange und so unerbittlich herrschenden höchstrichterlichen „Strafzumessungslösung“ gerissen hat. Uneingeschränkte Zustimmung erwarte ich nicht.

Zwei meiner Vorredner, Herrn Körner und Herrn Weber, habe ich vor fast genau 11 Jahren, am 21. und 22. Januar 2005, auf dem „1. Betäubungsmittelsymposion“ in St. Märgen bei Freiburg* kennengelernt. Ich selbst habe damals, und damit nähere ich mich meinem Thema, einen Vortrag zur V-Mann-Problematik gehalten, und zwar speziell unter dem Aspekt einer möglichen Falschaussage, des damit verbundenen Angriffs auf die staatliche Rechtspflege, und des praktisch nicht vorhandenen Verurteilungsrisikos des V-Manns. Ich habe in St. Märgen auch einiges über die Zulässigkeit des Lockspitzeleinsatzes gesagt. Diese Ausführungen waren damals nicht neu, und sie sind heute (leider) immer noch nicht obsolet. Daran hat auch das Urteil des 2. Strafsenats vom 10. Juni 2015 nichts geändert.

* Die Vorträge finden sich in dem von der Vereinigung Baden-Württembergischer Strafverteidiger herausgegebenen Sammelband „1. Symposion Betäubungsmittelstrafrecht St. Märgen 2005“

II. Die Rechtsprechung bis zum 10. Juni 2015

Ich will zunächst, um die Entscheidung des 2. Strafsenats richtig einordnen und würdigen zu können, die Situation zum Lockspitzeleinsatz in Rechtsprechung und Literatur bis zum 10. Juni 2015 ins Gedächtnis rufen.

Seit Jahrzehnten hatte sich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts und insbesondere des Bundesgerichtshofs in „beeindruckender Übereinstimmung“ und  „eindrucksvoller Einmütigkeit“, so Volker Krey in seinem für das Bundeskriminalamt erstatteten Gutachten,* dahingehend geeinigt, dass über die Frage der Rechtsgrundlage des (spezialgesetzlich nicht geregelten) Lockspitzeleinsatzes nicht diskutiert werde, und dass wegen der in vielen Entscheidungen apodiktisch wiederholten Behauptung der Notwendigkeit und der angeblich daraus folgenden Zulässigkeit des V-Mann-Einsatzes jede Rechtsfolge ausgeschlossen sein solle, die über die Berücksichtigung der Tatprovokation bei der Strafzumessung hinausginge.

* Volker Krey, „Rechtsprobleme des strafprozessualen Einsatzes Verdeckter Ermittler“ (Sonderband der BKA-Forschungsreihe), 1993, Rdnr. 19, 104.

„Geradezu mantrahaft“ nennen Meyer und Wohlers* diese Rechtsprechung, eine Formulierung, die treffender nicht sein könnte. Wer die einschlägigen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs liest, weiß, was gemeint ist.**

*    Meyer/Wohlers, Tatprovokation quo vadis – zur Verbindlichkeit der Rechtsprechung des EGMR (auch) für das deutsche Strafprozessrecht, JZ 2015, 761.
** Statt aller BGHSt 32, 115, v. 17.10.1983 – GSSt 1/83 = Jurion.

Ich selbst habe, etwa zeitgleich mit der viel gründlicheren Abhandlung von Fischer und Maul in der NStZ 1992, auf die noch einzugehen sein wird, in einem kurzen Aufsatz im Strafverteidiger 1992* gefragt, ob staatlicher „Handlungsbedarf“ eine Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen sein könne, und ich habe mir – wie ich meine, ordentlich begründet – erlaubt festzustellen, dass dies nicht der Fall sei. Das kannte ich so noch aus den Vorlesungen im Öffentlichen Recht an der Universität, und ich gehe davon aus, dass diese Auffassung auch heute noch lege artis wäre.

* Malek, Staatlicher „Handlungsbedarf“ als Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen?, StV 1992, 342 ff.

Das war natürlich – salopp ausgedrückt –  in den Wind geschrieben, ebenso wie die zahlreichen anderen Veröffentlichungen aus der Literatur, etwa die Aufsätze in dem berühmten Sammelband von Klaus Lüderssen,* oder auch die genannte Veröffentlichung von Maul und Fischer, oder ein sehr beeindruckender Aufsatz im Jahr 1986 von Gerhard Strate**, der mit den Worten endete: „Mit dem gezielten Einsatz von V-Leuten… ist die Schwelle zwischen erlaubter List und Rechtsbeugung längst überschritten. Er ist ständiger Verfassungsbruch – nichts anderes“.

*   Lüderssen (Hrsg.), V-Leute. Die Falle im Rechtsstaat., 1985.
** Strate, Verdeckte Ermittlungen – auch gedeckt durch die Verfassung?, Anwaltsblatt 1986, 309 ff.

Volker Krey, der neben Kurt Rebmann als einer der wenigen Autoren nicht von einem Grundrechtseingriff beim Lockspitzeleinsatz ausging und daher auch keine Rechtsgrundlage für nötig erachtete, nannte die Kritik des V-Mann-Einsatzes in der Literatur „teils von überzogener Sorge um die Rechtsstaatlichkeit unseres Strafverfahrens geprägt, teils erschreckend blauäugig-praxisfern, teils sogar ausgesprochen praxisfeindlich.“* Und den Kritikern seines Standpunktes schrieb er „ins Stammbuch“: „Man kann die Rechtsstaatlichkeit auch dadurch aushöhlen, dass man durch ständiges Erfinden neuer… rechtsstaatlicher Prinzipen schließlich eine Hypertrophie herbeiführt, die den Staatsorganen die effektive Ausübung ihrer ureigensten Aufgaben… unerträglich erschwert.“**

*   Krey a.a.O. Rdnr. 22.
** Krey a.a.O. Rdnr. 124.

Ob Thomas Fischer damals schon geahnt hat, dass er fast ein Vierteljahrhundert später die Gelegenheit zur praktischen Umsetzung seiner Vorstellungen bekommen (und ich nehme es vorweg: versäumen) würde? So lange jedenfalls sollte noch das absolute und uneingeschränkte Regiment der „Strafzumessungslösung“ herrschen, wie sich die Rechtsprechung der BGH-Senate hochtrabend bezeichnete, als wäre damit in Wirklichkeit irgendetwas anderes beschrieben als dass die Strafzumessungsgründe des § 46 StGB (hier: die Beweggründe der Tat) auch im Falle der staatlichen Tatprovokation Anwendung finden sollten.

Das Urteil des EGMR vom 9. Juni 1998 in Sachen Teixeira de Castro gegen Portugal*, die in Strafverteidigerkreisen schon auf den Einsturz der Strafzumessungsbastion hoffen ließ, brachte diese allenfalls für ein knappes Jahr ins Wanken, bevor eine Entscheidung des 4. Strafsenats des BGH vom 20.05.1999** wieder zur alten Ordnung, nämlich zur Strafzumessungslösung, rief. Zu früh gefreut… das entsprach damals in etwa der Gefühlslage unter den Strafverteidigern. Und folgerichtig ging es weiter wie bisher.

*   EGMR Urteil vom 09.06.1998 – 44/1997/828/1034 = NStZ 1999, 47, 48 m. Anm. Sommer = EGMR.
** BGH, 20.05.1999 – 4 StR 201/99 = StV 1999, 631 = HRRS.

Die Wirkung dieser Rechtsprechung auf die Instanzgerichte war verheerend, und sie ist es bis heute. Dass das Landgericht Bonn, über dessen Urteil der 2. Strafsenat zu entscheiden hatte, trotz der erstinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen nicht selbst zu einer Verfahrenseinstellung gekommen ist, sondern zu Freiheitsstrafen von 3 Jahren und 9 Monaten, ist eine Folge dieses Einflusses. Die Strafkammern haben sich der „Strafzumessungslösung“ so sehr unterworfen, sei es aus Überzeugung, Bequemlichkeit oder schlichter Resignation vor den Gefahren der Revision, dass eine wie auch immer geartete Äußerung zu den Rechtsgrundlagen des V-Mann-Einsatzes oder gar eine Infragestellung der höchstrichterlichen Rechtsprechung praktisch nicht zu erlangen war.

Und nun, nach vielen weiteren Jahren der uneingeschränkten Herrschaft der „Strafzumessungslösung“, kommt am 23. Oktober 2014 erneut eine Entscheidung aus Straßburg: Furcht gegen Deutschland*. Ein Hoffnungsschimmer? Wieder die Diskussion unter den Kollegen: Fällt die „Strafzumessungslösung“ dieses Mal? Schließlich geht es nicht um Portugal, sondern um Deutschland. Und wieder – fast ein déjà vue! – die Gegenattacke, diesmal geritten vom 1. Strafsenat mit seiner Entscheidung vom 19. Mai 2015** in einer Sache, die nach den Feststellungen der Revisionsrichter eigentlich gar keine Stellungnahme zur Entscheidung des EGMR erfordert hätte. Der einzige Sinn dieser Entscheidung konnte es m.E. sein, die eigenen Truppen in Stellung zu bringen. Also wieder zu früh gefreut?

*   EGMR, 23.10.2014 – 54648/09 = StraFo 2014, 504 = HRRS.
** BGH, Urt. v. 19.05.2015 – 1 StR 128/15 = NStZ 2015, 541 = HRRS.

Dann aber wider Erwarten die Sensation: Zunächst nur als Pressemitteilung das Urteil des 2. Strafsenats vom 10. Juni 2015, das, wie man später erfahren durfte, ohne Kenntnis der Entscheidung des 1. Senats ergangen war (man spricht offenbar nicht viel miteinander in Karlsruhe), und mit der zum ersten Mal in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein Verfahrenshindernis wegen „rechtsstaatswidriger Tatprovokation“ angenommen wurde.* Ein Verfahrenshindernis! Das hörte sich gut an und ging wie ein Lauffeuer durch die Reihen der Strafverteidigung.** Hatte der Rechtsstaat nach jahrzehntelangem Kampf gesiegt?

*    Nebenbei bemerkt verletzt der pleonastische Begriff der „rechtsstaatswidrigen Tatprovokation“ allerdings mein  Sprachgefühl in ähnlicher Weise wie der „absichtliche Betrug“ oder der „vorsätzliche Mord“.
** Vgl. meine Besprechung im „Freispruch“ Nr. 7, September 2015, S. 15 ff., online abrufbar unter  www.strafverteidigertag.de/freispruch/Freispruch%20Heft%207.pdf

III. Die Einschätzung der Entscheidung vom 10. Juni 2015

Fragen wir uns nüchtern: Was hat das Urteil vom 10. Juni 2015 gebracht und was nicht?

Das Erfreuliche

Der Einsatz von V-Leuten, die Übertölpelung des „Verdächtigen“ ohne Anfangsverdacht* ist für die Ermittlungsbehörden kein Selbstläufer mehr. Todesdrohungen durch Ermittler beispielsweise, wie sie in mehreren Entscheidungen des BGH beschrieben werden,** könnten in Zukunft mehr bewirken als nur eine Berücksichtigung bei der Strafzumessung.

*   Hierzu sehr instruktiv Eisenberg GA 2014, 404 ff.
** Z.B. BGH – 4 StR 30/06 = NStZ 2009, 405, 406; BGH StV 1995, 131; 364 = Jurion; BGHSt 47, 44, 48 f.

Und vor allem: Prozesse mit Beteiligung von V-Leuten könnten wieder spannend werden! Der Sargdeckel, der sich jahrzehntelang über die Rechtsprechung der Strafkammern gelegt hatte, ist ein wenig angehoben worden, und ein bisschen frische Luft könnte der Anfang sein, der Totgeglaubten zu neuem Leben zu verhelfen. Es mag sein, dass die Instanzgerichte, und dies auch als Folge der wirklich lesenswerten Ausführungen im Urteil des Landgerichts Bonn*, sich auch wieder für die Person des V-Manns interessieren, und vielleicht dieselben Kriterien an dessen Glaubwürdigkeitsbeurteilung anlegen wie bei anderen Zeugen auch. Ist es denn nicht interessant, ob der V-Mann vorbestraft ist („Dazu darf ich nichts sagen“), wie viel er durch seine Tätigkeit für die Polizei verdient hat („Dazu darf ich auch nichts sagen“) und welchen Bruchteil dieser Entlohnung an seinem Gesamteinkommen ausmacht („Auch dazu darf ich nichts sagen“)?

* Ausführliche Zitate aus dieser Entscheidung finden sich im „Freispruch“ Nr. 7, 19 ff., s. Anm. 16.

Mag sein, dass das Urteil des 2. Strafsenats auch einen ersten kleinen Schritt in Richtung einer klaren gesetzlichen Regelung der Tätigkeit des freischaffenden Lockspitzels bedeuten kann; auch dies wäre lobenswert und erfreulich. Von einer Abschaffung der staatlichen Tatprovokation, wie sie Jahn und Kudlich erhoffen*, wage ich allerdings nicht zu sprechen.

* Jahn/Kudlich, Rechtsstaatswidrige Tatprovokation als Verfahrenshindernis: Spaltprozesse in Strafsachen beim Bundesgerichtshof, JR 2016, 54 ff., 63 f.

Und das „Ernüchternde“

Es fällt beim Lesen des Urteils vom 10. Juni 2015 auf, dass der 2. Strafsenat die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nur referierend und nicht kommentierend oder gar zustimmend übernimmt (vgl. Urteil Rdnr. 20 bis 23). Nach dessen Rechtsprechung liege, so das Urteil, ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 S.1 EMRK vor, wenn sich die beteiligten Ermittlungspersonen nicht auf eine weitgehend passive Strafermittlung beschränkten; der Grund dafür liege darin, dass es Aufgabe der Ermittlungsbehörden sei, Straftaten zu verhüten und zu untersuchen, und nicht, zu solchen zu provozieren (Rdnr. 20 des Urteils). Dies ist korrekt wiedergegeben und klingt überraschend schlicht, zutreffend und unkompliziert.

Wie der Senat aber selbst zu dieser Begründung steht, wird mit keinem Wort mitgeteilt. Im Weiteren geht es nur noch darum, dass im Falle der Revisionsführer die Grenze des Zulässigen überschritten worden sei, und zwar auch nach den Maßstäben der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Rdnr. 25 ff. des Urteils).

Natürlich hätte es mehr als nahe gelegen, den materiellen Gehalt der Straßburger Entscheidung auf den Prüfstand des Grundgesetzes zu stellen. Diesen Mangel bedauern (Gottseidank!)* auch Meyer und Wohlers. Sie stellen fest: „Es wäre schön gewesen, wenn die höchsten deutschen Gerichte diese Folgerungen direkt aus unserer eigenen Verfassung geschöpft hätten“.** Wohl wahr, denn dass das in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK verankerte Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren sich zwanglos auch aus unserer Verfassung ableiten ließe, dürfte kaum zu bestreiten sein. Allerdings hätte man damit auch nicht bis zum Juni 2015 warten müssen. Gelegenheiten gab es auch zuvor genug.

*   Man ist als Praktiker immer froh, wenn einem in theoretischen Fragen Unterstützung aus der Wissenschaft zuteilwird.
** Meyer/Wohlers a.a.O. S. 770.

Ob diese Zurückhaltung damit zusammenhängt, dass sich der 2. Senat, wie Meyer und Wohlers argwöhnen, „ein Hintertürchen offen lässt und in den Raum stellt, ob jede rechtsstaatswidrige Tatprovokation die absolute Rechtsfolge eines endgültigen Verfahrenshindernisses nach sich ziehen muss“*, lässt sich derzeit schwerlich verifizieren. Gelegenheit zur Überprüfung wird es in Zukunft sicherlich geben.

* Meyer/Wohlers a.a.O

Denkbar sind m.E. aber auch taktische Überlegungen vor dem Hintergrund eines „Showdowns“ in Karlsruhe, die es opportun erscheinen lassen, sich lieber den Zwängen aus Straßburg zu beugen als durch Abkehr von der eigenen Rechtsprechung, die ja bisher – das dürfen wir nicht vergessen! – ebenfalls „Strafzumessungslösung“ hieß, die Notwendigkeit einer Anrufung des Großen Senats zu provozieren.

Trotzdem bleibt die interessante Frage: Wie hätte der 2. Strafsenat wohl über die Revision gegen das Urteil des Landgerichts Bonn entschieden, wenn es die Steilvorlage aus Straßburg nicht gegeben hätte? – Ich fürchte, die Antwort wäre nicht schmeichelhaft.

Weitaus ärgerlicher (und ernüchternder) ist aber die nach wie vor völlig unklare rechtliche Bewertung des Einsatzes von V-Mann und Verdecktem Ermittler; dies gilt für die Frage nach dem Eingriffscharakter des V-Mann-Einsatzes ebenso wie die daraus folgende Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung. Die Entscheidung vom 10. Juni 2015 verhält sich hierzu nicht und billigt damit die bisherige, (nicht nur) aus meiner Sicht verfassungswidrige Praxis auch für die Zukunft.

Der erstaunliche Optimismus, der aus den lesenswerten Ausführungen von Jahn und Kudlich* im Hinblick auf eine nun anstehende gesetzliche Regelung (und das noch in dieser Legislaturperiode!) heraus klingt, findet bei realistischer Betrachtungsweise in der Entscheidung des 2. Strafsenats keine Grundlage. Ich fürchte, auch der Gesetzgeber wird sie nicht entdecken.

* Jahn/Kudlich a.a.O

Fischer und Eschelbach

Die Zurückhaltung des 2. Senats im Hinblick auf die grundsätzlichen Fragen ist umso erstaunlicher, als sich nicht die Unbedeutendsten unter den an der Entscheidung beteiligten Senatsmitglieder literarisch sehr eindeutig hierzu geäußert, um nicht zu sagen „geoutet“ haben.

Wenn Eschelbach in seiner Kommentierung zu § 110a StPO meint, der Einsatz von V-Personen gelte in der Rechtsprechung „unreflektiert* seit jeher ohne weiteres als zulässig, weil er zur Bekämpfung schwer aufklärbarer Kriminalität notwendig sei“,** dann wendet sich diese Kritik fraglos auch gegen die Entscheidung des 2. Senats. Denn von einer „Reflexion“ der Zulässigkeitsvoraussetzungen des V-Mann-Einsatzes ist auch bei mehrmaliger Lektüre des Urteils nichts zu finden. Und wenn Eschelbach fortfährt, „die behauptete Notwendigkeit des V-Mann-Einsatzes ersetzt … keine Legitimation nach dem Prinzip vom Vorrang und vom Vorbehalt des Gesetzes“, dann kann man dem schlechterdings nicht widersprechen. Ich selbst habe vor 24 Jahren (!) dazu ausgeführt: „Die … Kategorien der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Maßnahme sind fehl am Platz, wenn festgestellt werden muss, dass eine aus verfassungsrechtlichen Gründen notwendige Ermächtigungsgrundlage für den vorgenommenen Eingriff nicht existiert… In keinem Fall ersetzt… die Notwendigkeit oder Gebotenheit einer Maßnahme die gesetzliche Grundlage selbst“.*** – Klingt das nicht fast wie Eschelbach heute?

*     Was für ein erstaunliches Wort für die Bewertung der höchstrichterlichen Rechtsprechung durch ein richterliches Mitglied des Bundesgerichtshofs!
**   Eschelbach in SSW-StPO § 110a Rdnr. 11.
*** Malek StV 1992, 342, 344.

Aber wo sind die entsprechenden Ausführungen in der Entscheidung vom 10. Juni 2015? Mit Verwunderung nehme ich dazu eine Bemerkung von Jahn und Kudlich zur Kenntnis, wonach sich „wissenschaftliches Beharrungsvermögen und das ceterum censeo mit überzeugenden Argumenten noch fast immer ausbezahlt (haben)“.* Schön, wenn es so wäre. Aber wo finden sich nur die einschlägigen „wissenschaftlichen“ Argumente in dem Urteil des 2. Strafsenats? Ich vermag sie nicht zu finden.

* Jahn/Kudlich a.a.O. S. 64.

Mit Interesse und Vergnügen habe ich dann auch noch die Ausführungen des Vorsitzenden des 2. Strafsenats und damaligen Staatsanwalts Thomas Fischer gelesen, der gemeinsam mit Richter am Bundesgerichtshof Maul folgendes „Fazit“ gezogen hat*:

1.  Bei dem Einsatz von polizeilichen Lockspitzeln zur Tatprovokation handelt es sich um staatliche Eingriffe in den durch Art.2 Abs.1 i.V. mit Art.1 Abs.1 GG geschützten Persönlichkeitsbereich; sie bedürfen einer gesetzlichen Grundlage.

2. …

3.  Weder der Lockspitzeleinsatz bei Vorliegen eines Anfangsverdachts noch die Tatprovokation bislang Unverdächtiger finden im Gesetz eine Grundlage. Auf die Aufgabenzuweisungsnorm des § 163 StPO können sie nicht gestützt werden. Eine eventuelle „Übergangsfrist“ zur Schaffung einer Rechtsgrundlage ist abgelaufen.

4.  In jedem Fall unzulässig und auch durch Einfügung einer Ermächtigungsnorm in die StPO nicht zu legitimieren ist die Tatprovokation allgemein „Tatgeneigter“ ohne Anfangsverdacht i.S. des § 152 Abs.2 StPO. Eine solche Maßnahme degradiert den Bürger zum Objekt staatlicher Kriminalpolitik; sie ist verfassungswidrig.

5.  Aus der Unzulässigkeit der polizeilichen Tatprovokation folgt ein umfassendes Beweisverwertungsverbot; dieses ergibt sich unmittelbar aus Art. 2 Abs.1, Art. 1 Abs.1 GG.**

*   Fischer/Maul, Tatprovozierendes Verhalten als polizeiliche Ermittlungsmaßnahme, NStZ 1992, 7, 13
** Ich darf anmerken: Von der EMRK ist hier nicht die Rede, wohl aber von unserer Verfassung.

Soweit Fischer/Maul vor 24 Jahren. Wer das Urteil vom 10.6.2015 gelesen hat, wird zugeben müssen, dass auch diese Überlegungen in der Entscheidung des 2. Strafsenats schwerlich wiederzufinden sind. Das ist bedauerlich.

Eine letzte „Ernüchterung“ noch:

Auch zu der zwischenzeitlich (wenn auch schon vor langer Zeit) in die StPO eingeführten Regelung des Verdeckten Ermittlers und den dort genannten Voraussetzungen für dessen Einsatz hätte in einem Urteil von so vorhersehbar großer Tragweite, bei der es – entsprechend der polizeilichen Praxis – sowohl um den Einsatz von V-Leuten als auch um den Einsatz von Verdeckten Ermittlern ging, einiges gesagt werden können und müssen.

Aber die Regelung des § 110a StPO spielt im Urteil des 2. Strafsenats ebenfalls keine Rolle. Man fragt sich, warum dies so ist, zumal die Vorschrift in der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte durchaus korrekt zitiert wird. Ein Blick in das Gesetz lohnt sich hier allemal, gehört doch zu den Voraussetzungen für den Einsatz eines Verdeckten Ermittlers, dass eine schwere Straftat stattgefunden hat. Das klingt grammatikalisch eindeutig. Der 2. Strafsenat sieht dies anders und verweist, ohne sich bei dieser Frage mit dem Gesetzeswortlaut aufzuhalten, zutreffend auf eine lange Tradition höchstrichterlicher Rechtsprechung, etwa auf BGHSt 47, 44 ff. oder BGHSt 45, 321, 336, also ein bekanntes Argumentationsmuster.

Mit dieser, ebenfalls „unreflektierten“ Tradition bricht der 2. Strafsenat nicht, sondern führt aus, der Einsatz Verdeckter Ermittler sei dann zulässig, wenn sich dieser gegen eine Person richte, „die in einem den § 152 Abs. 2, § 160 StPO vergleichbaren Grad verdächtig ist, an einer bereits begangenen Straftat beteiligt gewesen oder (nicht etwa: und) zu einer zukünftigen Straftat bereit zu sein“ (Urteil Rdnr. 24).

Neben dem auf eine bereits begangene Straftat bezogenen Anfangsverdacht soll also als echte Alternative (nach wie vor) der „gänzlich anders gelagerte … Verdacht genügen, dass die Zielperson geneigt sein könnte, eine entsprechende Straftat zu begehen“.* Abgesehen davon, dass § 110a StPO eine solche Regelung nicht enthält, kennt auch die Strafprozessordnung ansonsten die Figur der „suspicio futura“ nicht.

* Meyer/Wohlers a.a.O. S. 563

Das Urteil vom 10.6.2015 verweist zur Frage des „Verdachts“ ausdrücklich auf die §§ 152 Abs. 2, 160 StPO, wobei die Formulierung „in einem den § 152 Abs. 2, § 160 StPO vergleichbaren Grad verdächtig ist,… zu einer zukünftigen Straftat bereit zu sein“, einigermaßen grotesk klingt. Wiederum ist Meyer und Wohlers zuzustimmen, wenn sie hierzu meinen: „Solange jedoch kein Anfangsverdacht im strafprozessualen Sinn, sondern lediglich die Erwartung einer zukünftigen Tat vorliegt, kann die Annäherung an die Zielperson bzw. die Infiltration einer kriminellen Struktur nur dann zulässig sein, wenn die Zielperson in Zusammenhang mit einem bereits vorliegenden (provokationstat-externen) Verdacht bezüglich anderer Straftaten steht und ein kriminalistisch-funktionaler Zusammenhang zwischen diesen und der Tat besteht“.* Und sie kommen zu dem Ergebnis: „Ohne konkreten Tatverdacht oder bei qualitativ anderem Verdacht wäre eine Tatprovokation dagegen per se unzulässig“. Die Fußnote (135) zu dieser Feststellung lautet übrigens: „Vgl. auch schon Fischer/Maul NStZ 1992, 7, 11“. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!

* Meyer/Wohlers a.a.O. S. 769.

IV. Fazit

Ich fasse meine Überlegungen zusammen:

1. Das Urteil des 2. Strafsenats vom 10. Juni 2015 ist ein kleiner, aber begrüßenswerter Schritt weg von der bislang ausnahmslos bei allen Strafsenaten geltenden  „Strafzumessungslösung“ in Fällen so genannter rechtsstaatswidriger Tatprovokation.

2. Die Entscheidung gibt der Verteidigung erstmals die Chance, durch genaue Aufklärung der dem Lockspitzeleinsatz zu Grunde liegenden Umstände eine Einstellung des Verfahrens wegen eines Verfahrenshindernisses zu bewirken. Auch dies ist zu begrüßen.

3. Die von einigen Stimmen in der Literatur diagnostizierte „Kehrtwende in der Rechtsprechung“ (Meyer/Wohlers) vermag ich in dem Urteil allerdings ebenso wenig zu erkennen wie den Erfolg „wissenschaftlichen Beharrungsvermögens“ (Jahn/Kudlich). Für illusorisch halte ich die Erwartung, der Bundesgesetzgeber werde bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode Konsequenzen aus dieser Entscheidung ziehen.

4. Tatsächlich hat sich der 2. Strafsenat in seiner Entscheidung ausschließlich auf die Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gestützt, ohne seine Entscheidung, wie es möglich und auch geboten gewesen wäre, direkt aus unserer Verfassung zu schöpfen. Dies ist bedauerlich.

5. Die grundsätzlichen Bedenken gegen den gesetzlich nach wie vor nicht geregelten Einsatz von V-Leuten und den Einsatz von Verdeckten Ermittlern über die Aufklärung begangener Straftaten hinaus werden durch das Urteil nicht beseitigt. Die Chance zu einer klärenden Entscheidung wurde nicht genutzt.

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