Sie kennen das Henne-Ei-Problem, zumindest in seiner logischen Fragestellung nach der Kausalität oder der Suche nach dem eigentlichen Grund für etwas. Möglicherweise kennen Sie auch den ethischen Aspekt dieses Alltagsrätsels und den Ausweg, den Kant mit dem kategorischen Imperativ gefunden hat. Und gleich werden Sie erfahren, welche Dimension dieses Rätsel im Strafverfahren annehmen kann.

Am 6. September 2016 trug sich in einem norddeutschen Gerichtssaal vor einer großen Strafkammer etwas sehr Seltenes zu. Eine in der Natur der Sache verankerte, insofern also normale, tatsächlich aber gleichwohl sehr seltene Prozesssituation verschaffte den Verfahrensbeteiligten und der Öffentlichkeit einen geradezu unverschämten Blick hinter die Kulissen.

Weil der Kammer des Vorsitzenden Richters G. ein kapitaler Fehler bei der Beweiswürdigung unterlaufen war und der Vorsitzende Richter S. in der nach Zurückverweisung durch den BGH erforderlich gewordenen neuen Hauptverhandlung als jemand entlarvt wurde, der mit seinem Facebook-Auftritt den Eindruck erweckte, besondere Freude am Verhängen hoher Strafen zu empfinden*, verhandelte an jenem wie an vielen anderen Hauptverhandlungstagen nun also die dritte große Strafkammer eines anderen Landgerichts über  ein und dieselbe Anklage. Ein Doppelrückläufer also.

* (http://www.sueddeutsche.de/panorama/bgh-urteil-richter-verspielt-seine-reputation-mit-facebook-bild-1.2876266; BGH Beschluss vom 12.01.2016, Az. 3 StR 482/15)

Diese Prozesssituation bringt es mit sich, dass die Zeugen nicht recht verstehen, weshalb sie nun zum x-ten Male ihre Aussage machen müssen. Und wer das Geschäft kennt oder Ahnung von Aussagepsychologie hat, kann sich ausmalen, wie sich die Inhalte der verschiedenen Zeugnisse in den drei Durchgängen zueinander verhalten. In einer solchen Verfahrenskonstellation schreit die Aussagepsychologie geradezu nach einer Aufklärung des früheren Aussageverhaltens von Hauptbelastungszeugen. Also ging es in diesem dritten Durchgang nicht nur der Verteidigung um Fragen der Aussagekonstanz bzw. Aussagegenese.

Die entsprechende Aufklärungspflicht aus § 244 Abs. 2 StPO brachte die Vorsitzenden Richter der aufgehobenen Kammern, also die Herren G. und S. in den Zeugenstand. Während der eine, G., in dieser -ungewohnten- Rolle nicht aus seiner herrschenden Haut konnte und deutliches Interesse an der Verhandlungsleitung zeigte, berichtete der facebookgeschädigte S. nicht etwa seine Wahrnehmungen, sondern referierte einen für ihn feststehenden Sachverhalt, wie er sich in seinem aufgehobenen Urteil nachlesen lässt, gerade so als sei er bei der angeklagten Tat dabei gewesen.

Da war einer jahrelang Strafrichter und hat immer noch nicht verstanden, dass sich die StPO unter der Wahrheitserforschung durch Zeugenbeweis nicht das Abbild gesammelter Einschätzungen und Meinungen vorstellt, sondern die Sicherung von Wahrnehmungstatsachen. Aber darum soll es hier gar nicht gehen, zumal es wert wäre, dieser denkwürdigen Verfahrenssituation einen eigenen Artikel zu widmen.

Das hier zu berichtende Spektakel nahm an ganz anderer Stelle seinen Anfang, nämlich als man den Richterzeugen S., der als zweiter dran war, danach fragte, ob er vor seiner jetzigen Aussage sich mit dem zuvor schon vernommenen Kollegen G. über dessen Zeugenrolle in diesem Verfahren unterhalten habe. Darauf wollte der Richterzeuge S. -wiederum in vollständiger aber erfolgloser Verkennung seiner Zeugenpflichten- zunächst nicht antworten. Das sei privat! Als er dann doch musste, verstand man sein Zögern jedenfalls psychologisch sofort. Der Kollege Vorsitzende Richter am Landgericht G. habe sich gegenüber ihm, dem Vorsitzenden Richter am Landgericht S., geäußert, dass sich die vier Verteidiger in diesem Verfahren

»als Hüter des Rechtsstaats aufspielten, in Wirklichkeit aber vier große Arschlöcher seien.«

Jetzt sind wir bei dem Henne-Ei-Problem. Wurde dieser Richter G. so, weil es solche Verteidiger wie diese Vier gibt? Oder verteidigen diese Vier so, weil es Richter wie G. gibt? Müssen wir Strafverteidiger so energisch, kämpferisch, taktisch, kenntnisreich, engagiert, unerbittlich, formal, streitig, konfrontativ verteidigen, um einer Justiz Paroli bieten zu können, die die Pflicht zur objektiven Wahrheitserforschung, die die Verfahrensgarantien, die die Beschuldigtenrechte, die die StPO, die Verfassung und die EMRK missachtet? Wird es im Gerichtssaal bisweilen hektisch oder verbissen oder laut, weil wir damit anfangen – oder reagieren wir nur? Wer ist die Henne und wer ist das Ei und wer war zuerst da?

Selbst wenn Sie die Antwort kennen, es wird jedenfalls unter Richtern welche geben, die anderer Auffassung sind.

Nehmen wir die Steilvorlage von G. einmal auf und sezieren wir sie nach allen Regeln der Kunst:

Vielleicht -vermutlich ist dies zu viel der Ehre, aber weshalb soll ein Richter nicht auch von Verteidigungskunst profitieren- wollte der Vorsitzende Richter am Landgericht G. mit seiner Formalbeleidigung den Finger auf eine Wunde legen und sozusagen berechtigte Interessen wahrnehmen, indem er eine aus seiner Sicht beklagenswerte Verwahrlosung der  Sitten und Gesetze deutlich machte:

§ 43 BRAO – Allgemeine Berufspflicht –

Der Rechtsanwalt hat seinen Beruf gewissenhaft auszuüben. Er hat sich innerhalb und außerhalb des Berufes der Achtung und des Vertrauens, welche die Stellung des Rechtsanwalts erfordert, würdig zu erweisen.

Das Arschloch tut das nicht, da hätte G. Recht.

Allerdings macht er diesen schönen Verteidigungsansatz selbst kaputt, indem er sein mögliches berechtigtes Interesse mit der Behütung des Rechtsstaats, also mit einer anderen Rechtsvorschrift verknüpft:

§ 1 BORA – Freiheit der Advokatur

(3) Als unabhängiger Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten hat der Rechtsanwalt seine Mandanten vor Rechtsverlusten zu schützen …, vor Fehlentscheidungen durch Gerichte und Behörden zu bewahren und gegen verfassungswidrige Beeinträchtigung und staatliche Machtüberschreitung zu sichern.

Herr Vorsitzender Richter am Landgericht G. drängt allen, die sich mit seiner Äußerung befassen, die Frage auf:  Kann ein Rechtsanwalt, der sich in freier, selbstbestimmter und unreglementierter (vgl. § 1 Abs. 1 BORA !)  Berufsausübung als Hüter des Rechtsstaats aufspielt, überhaupt ein Arschloch sein?

Die Antwort gibt Kant mit seinem kategorischen Imperativ. Die Metapher von der Henne und dem Ei entwickelt keine ethische Relevanz. Es geht bei Richtig oder Falsch nicht um die Frage der Kausalität und nicht um die Ursache im Verhalten anderer, sondern um die Verwirklichung eines anerkannten allgemeingültigen Prinzips.

Deshalb sind die Strafverteidigerin und der Strafverteidiger, die ihr Handeln aus § 1 BORA, aus der StPO, der Verfassung und der EMRK ableiten und sich als Hüter des Rechtsstaats aufspielen keine Arschlöcher, sondern eine Zierde und eine Garantie für die Autorität des Strafrechts und eine Voraussetzung für Gerechtigkeit und den Rechtsstaat, den ihre Handlungen meist schon im Einzelfall, jedenfalls aber im Ganzen behüten.

Aus dieser Erkenntnis heraus werden in dieser Verteidigerkolumne Konzepte und Verteidigungsaspekte vorgestellt, mit der wir eine Justiz konfrontieren und vielleicht sogar stellen können, wenn sie Beschuldigtenrechte missachtet, wenn sie sich mit einer erst besten Wahrheit zufrieden gibt anstelle einer gründlichen Wahrheitserforschung, wenn sie im Rechtsstaat verbotene Abkürzungen versucht oder einfach Fehler begeht. Dabei geht es nicht um schiere Dogmatik, sondern um Haltung und um Handlungskompetenz.

Bernd Wagner

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