Der Videobeweis im Strafverfahren – Teil 2

 – Voraussetzungen, Verwendungs- und Verwertungsverbote*

von Hans Meyer-Mews, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht, Bremen
veröffentlicht in confront 2016, Heft 2
Fortsetzung des Blogbeitrags Der Videobeweis im Strafverfahren Teil 1

*    Leicht geänderte und aktualisierte Fassung des Vortrags, den der Verfasser auf der Hauptverhandlungstagung 2016 in Freyburg (Unstrut) gehalten hat.

II. Verwendungs- und Verwertungsvoraussetzungen

1. Relativierung bestehender Beweisverwertungsverbote durch die
Abwägungslösung

Werden relative Beweisverbote verletzt, so macht die hM die Verwertung der durch den Rechtsverstoß gewonnenen Erkenntnisse von einer Abwägung abhängig [Abwägungslösung].

Die Abwägungslösung hat ihre Wurzeln im inquisitorischen Prozessmodell. Nach dem inquisitorischen Prozessmodell ermittelt das Gericht die Wahrheit von Amts wegen. Das BVerfG favorisiert dieses Prozessmodell, wenn es immer wieder betont, dass Beweis-erbote besonders begründbare Ausnahmen von der Pflicht der Gerichte zur Ermittlung der Wahrheit sind. Dabei wird gerne übersehen, dass Strafverfolgung im weitesten Sinne Eingriffsverwaltung ist, weswegen jeder den Bürger belastende staatliche Eingriff einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage bedarf und so gesehen Beweisverbote der Sache nach nicht mehr als die von Verfassungs wegen gebotene Erstreckung des Gesetzesvorbehalts auf das Strafverfahrensrecht sind. Nun ist das deutsche Strafverfahrensrecht sowohl durch Elemente des inquisitorischen Prozessmodells [z.B. § 244 II StPO] als auch durch Elemente eines adversatorischen Prozessmodells [z. B. Art. 6 I, III d) EMRK] gekennzeichnet.

Nach dem adversatorischen Prozessmodell unterliegt einerseits jeder verbotene Beweis grundsätzlich einem Verwertungsverbot, andererseits muss der Erhebung und Verwertung verbotener Beweise widersprochen werden, denn es handelt sich bei dem adversa-torischen Prozessmodell um ein am Parteiprozess orientiertes Modell. Sowohl der Staatsanwalt als auch der Verteidiger könnten versuchen, sich verbotener Beweis zu bedienen; solchem Ansinnen muss die gegnerische Partei widersprechen. Beide Prozessmodelle haben Vor- und Nachteile. Mit der Anerkennung der Abwägungs- und gleichermaßen der Widerspruchslösung im deutschen Strafverfahrensrecht haben sich aus beiden Prozessmodellen die dem Beschuldigten nachteiligsten Ausprägungen durchgesetzt.
Das dürfte mit dem dem adversatorischen Prozessmodell entnommenen und in Art. 6 I EMRK, das im Range eines Bundesgesetzes steht, garantierten Anspruch auf ein faires Verfahren kaum vereinbar sein.

Die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts darf auch im Fall der Ablehnung eines Beweisverbots nach dem Urteil des BVerfG (vom 02.03.2010 – 1 BvR 256/08) nicht folgenlos bleiben. Nach der Rspr. des BVerfG müsste in diesem Fall vielmehr eine vergleichbare Sanktion eingreifen. Der 2. Strafsenat des BGH hat in seinem Urteil vom 10.06.2015* die Sanktionierung einer verbotenen Beweisführung durch ein Beweisverbot verworfen und stattdessen sogar ein Verfahrenshindernis festgestellt. Gemessen hieran besteht selbstverständlich auch die Möglichkeit, das Verfahren wegen eines Verfahrenshindernisses gem. § 260 III StPO durch  Prozessurteil einzustellen, sofern die Anerkennung eines BVV nicht in Betracht kommt.**

* 2 StR 97/14
** Vgl. eingehend: Jäger, Beweisverwertung und Beweisverwertungsverbote im Strafprozess (2003), S. 257.

Soweit das BVerfG in einem Nichtannahmebeschluss vom 20.05.2011* keine Bedenken gegen die Anwendung der Abwägungslösung bei der Entscheidung über die Verwertung der Erkenntnisse aus einer Videoüberwachung erhoben hat, ist zu beachten, dass die Gründe einer Nichtannahmebeschlusses nicht an der Bindungswirkung des § 31 BVerfGG teilnehmen.** Durch den Nichtannahebeschluss trifft eine Kammer des BVerfG anders als bei einer stattgebenden Entscheidung*** nämlich keine Sachentscheidung, sondern lehnt die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung aus rein formalen Gründen ab, weil die Voraussetzungen des § 93a BVerfGG nicht vorliegen. Und natürlich würde selbst aus der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit einer Maßnahme im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren noch lange nicht deren strafprozessuale Unbedenklichkeit folgen.

* Vgl. BVerfG, Beschl. vom 16.03.2006 – 2 BvR 2072/10, Rn. 12ff.
**  Vgl. Sperlich in: Umbach|Clemens|Dollinger [Hrsg.], BVerfGG2 (2005) 93b, Rn. 18.
*** Vgl. BVerfG NJW 2006, 672.

Zwar trifft es zu, dass das BVerfG – u. a. in der Vorratsdatenspeicherungsentscheidung – gegen die Abwägungslösung keine verfassungsrechtlichen Bedenken erhoben hat. Das bedeutet aber nur, dass Rspr. und Gesetzgebung frei in der Entscheidung sind, auf welche Weise sie den Anforderungen, die das BVerfG im Volkszählungsurteil und in seiner Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung aufgestellt hat, entsprechen wollen. Der Entscheidung über ein Beweisverwertungsverbot kann – von Verfassungs wegen unbedenklich – eine Abwägung vorausgehen. In die Abwägung ist aber der Umstand, dass Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts wirksam zu sanktionieren sind und dass die Sanktion der Genugtuung des Betroffenen und der Prävention dienen muss, als Abwägungsparameter einzustellen. Lehnt das Gericht nach einer so vorgenommenen Abwägung die Anerkennung eines Beweisverwertungsverbots ab, so muss eine andere wirksame, der Genugtuung und der Prävention dienende Sanktion bestehen oder das Gericht muss eine derartige Sanktion selbst verhängen.

2.    § 6b BDSG als gesetzliche Ermächtigungsgrundlage

Nach § 6b BDSG, der das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 I, 1 I GG einschränkt, ist jede Videoüberwachung durch Private und durch öffentliche Stellen zweckgebunden. Die Beobachtung öffentlich zugänglicher Räume durch Video-überwachung ist nach § 6b I BDSG nur zulässig, soweit sie (1.) zur Aufgabenerfüllung öffentlicher Stellen, (2.) zur Wahrnehmung des Hausrechts oder (3.) zur Wahrnehmung berechtigter Interessen für konkret festgelegte Zwecke erforderlich ist und keine Anhalts-punkte bestehen, dass schutzwürdige Interessen der Betroffenen überwiegen. Nach Absatz 2 sind die Tatsache der Videoüberwachung und die hierfür verantwortliche Person oder Institution durch geeignete Maßnahmen bekannt zu geben.

Die Verarbeitung oder Nutzung von nach § 6b I BDSG erhobenen Daten ist nach Absatz 3 nur zulässig, wenn sie zum Erreichen des verfolgten Zwecks erforderlich ist und keine Anhaltspunkte bestehen, dass schutzwürdige Interessen der Betroffenen überwiegen [Abwägung]. Der Erlaubnistatbestand des § 6b BDSG erstreckt sich nur auf offene Videoüberwachung im öffentlichen Raum bzw. im der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Raum.*

* vgl. Venetis/Oberwetter, NJW 2016, 1051, 1053.

3.      Zweckänderung

Für einen anderen Zweck [Zweckänderung] dürfen die nach § 6b I BDSG erhobenen Daten nach § 6b III S. 2 BDSG nur verarbeitet oder genutzt werden, soweit dies zur Abwehr von Gefahren für die staatliche und öffentliche Sicherheit sowie zur Verfolgung von Straftaten erforderlich ist. Diese Voraussetzung hat das BVerfG in seinem Urteil zum BKA-Gesetz vom 20.04.2016 weiter eingeschränkt. Der Gesetzgeber kann danach – wie in § 6b III BDSG geschehen – eine weitere Nutzung der Daten auch zu anderen Zwecken als denen der ursprünglichen Datenerhebung erlauben [Zweckänderung]. Er hat dann allerdings sicherzustellen, dass dem für die ursprüngliche Datenerhebung erforderlichen Eingriffsgewicht der Datenerhebung auch hinsichtlich der neuen Nutzung Rechnung getragen wird [Verhältnismäßigkeit].*

* vgl. BVerfG, 20.04.2016, 1 BvR 966/091 BvR 1140/09, Rn. 287 unter Hinweis auf BVerfGE 100, 313, 389 f.;
BVerfG 109, 279, 377; BVerfGE 120, 351, 369; BVerfGE 130, 1 33 f.; BVerfGE 133, 277, 72 f., Rn. 225.

Eine Zweckänderung begründet nach dem Urteil des BVerfG zum BKA-Gesetz einen neuen Eingriff in das Grundrecht, in das durch die ursprüngliche Datenerhebung eingegriffen wurde.* Zweckänderungen sind folglich jeweils an den Grundrechten zu messen, die für die ursprüngliche Datenerhebung maßgeblich waren. Durch diese Anforderung wird § 6b III 2 BDSG im Wege des Richterrechts eingeschränkt. Diese Begrenzung gilt für jede Art der Verwendung von Daten zu einem anderen Zweck als dem ursprünglichen Erhebungszweck, unabhängig davon, ob es sich um die Verwendung als  Beweismittel oder als Ermittlungsansatz handelt.**

* vgl. BVerfG, aaO., Rn. 285, unter Hinweis auf BVerfGE 100, 313 360, 391; BVerfGE 109, 279, 375; BVerfGE 110, 33, 68 f.; BVerfGE125, 260, 312 f., 333; BVerfGE 133, 277, 372, Rn. 225; EGMR, (Weber u. Saravia v. Deutschland), NJW 2007, 1433f.
** vgl. BVerfG, aaO., unter Hinweis auf BVerfGE 109, 279, 377.

Die Rechtmäßigkeit einer Zweckänderung ist darüber hinaus am Verhältnisäßigkeitsgrundsatz zu messen. Informationen, die durch besonders eingriffsintensive Maßnahmen erlangt wurden, können auch nur zu besonders gewichtigen Zwecken benutzt werden.* Während noch nach der früheren Rspr. des BVerfG darauf abgestellt wurde, ob die geänderte Nutzung mit der ursprünglichen Zwecksetzung unvereinbar ist,** ist dies nach dem Urteil zum BKA-Gesetz durch das Kriterium der hypothetischen Datenneuerhebung [hypothetisch rechtmäßiger Ermittlungsverlauf] ersetzt worden. Für Daten aus eingriffsintensiven Überwachungs- und Ermittlungsmaßnahmen kommt es danach darauf an, ob die entsprechenden Daten nach verfassungsrechtlichen Maßstäben neu auch für den geänderten Zweck mit vergleichbar schwerwiegenden Mitteln erhoben werden dürften.*** Dieses Kriterium für die Datenneuerhebung soll indessen nicht schematisch abschließend gelten und die Berücksichtigung weiterer Gesichtspunkte nicht ausschließen.****  Die  wesentlichen Anforderungen an eine Datenneuerhebung müssen indessen erfüllt sein.

* vgl. BVerfG, aaO., Rn. 286 unter Hinweis auf BVerfGE 100, 313, 394; BVerfGE 109, 279, 377; BVerfGE 133, 277, 372 f., Rn. 225 mwN.
** vgl. Volkszählungsurteil BVerfGE 65, 1 62.
*** vgl. BVerfG, aaO., Rn. 287, u.a. unter Hinweis auf BVerfGE 125, 260, 333; BVerfGE 133, 277, 373 f., Rn. 225 f.
**** vgl. BVerfG, aaO., unter Hinweis auf BVerfGE 133, 277, 374 Rn. 226.

Eine Zweckänderung setzt denklogisch voraus, dass die Videoüberwachung ursprünglich zu einem gemessen an § 6b I BDSG – legalen – Zweck erfolgte. Überdies müssen für die Zweckänderung die Voraussetzungen des § 6b BDSG und dort insbesondere die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen. Die Rspr. des BVerfG zur Zweckänderung bezieht sich ersichtlich auf gemessen an § 6b BDSG ursprünglich rechtmäßige Datenerhebungen [z.B. Videoüberwachung] und regelt die Voraussetzungen für deren Zweckänderungen. Voraus-setzungen, die für die Zweckänderungen verlangt werden, müssen bei der ursprünglichen Datenerhebung mithin erst recht vorliegen. Eine Rechtmäßigkeitsabwägung oder Relati-vierung findet nicht statt. Dieses Ergebnis folgt der bereits der sog. Verlaufshypothese zugrunde liegenden Überlegung, die in der Frage mündet: Wäre das Beweisergebnis auch auf rechtmäßigem Wege generiert worden? War aber die Videoüberwachung von Anfang an unrechtmäßig, so scheidet gemessen an der Verlaufshypothese eine Zweckänderung von vornherein aus.

Die Rechtmäßigkeit der ursprünglichen Videoüberwachung setzt gemessen an § 6b BDSG voraus, dass

  • offen in öffentlichen oder öffentlich zugänglichen Räumen erfolgt;
  • sie zu einem in § 6b I BDSG zugelassenen Zweck erfolgte;
  • der Erhebungszweck im Voraus festgelegt worden ist;
  • die Tatsache der Videoüberwachung und die hierfür verantwortliche Stelle bekannt gemacht worden sind;
  • die erhobenen Daten, soweit sie zur Verfolgung des Erhebungszwecks nicht benötigt werden, unverzüglich gelöscht werden;

Im Falle einer Zweckänderung entbehrlich ist, dass der Erhebungszweck im Vorwege festgelegt worden ist; er muss aber ansonsten durch § 6b BDSG gedeckt sein.

Können durch Videoüberwachung erhobene Daten einer bestimmten Person zugeordnet werden, so ist diese nach Absatz 4 über eine Verarbeitung oder Nutzung entsprechend den §§ 19a und 33 BDSG zu benachrichtigen. Auch diese Voraussetzung muss bezogen auf die ursprüngliche Überwachung vorliegen.

Schließlich sind die Daten nach Absatz 5 unverzüglich zu löschen, sofern sie zur Erreichung des Zwecks nicht mehr erforderlich sind oder schutzwürdige Interessen der Betroffenen einer weiteren Speicherung entgegenstehen. Verläuft beispielsweise ein Arbeitstag in einem videoüberwachten Betrieb ohne die besonderen Vorkommnisse, derentwegen die Videoüberwachung zulässigerweise angeordnet worden ist, so sind die erhobenen Daten  gem. § 6b III 1 BDSG unverzüglich zu löschen.*

* vgl. Gola/Klug BDSG12, § 6b, Rn. 28.

Unverwertbar sind die aus einer Videoüberwachung stammenden Erkenntnisse, wenn

  • sie nicht aus einer offenen, sondern aus einer heimlichen Videoüberwachung stammen;
  • sie nicht zu einem gesetzlich zugelassenen Zweck erfolgen;
  • der Erhebungszweck nicht im Voraus festgelegt worden ist;
  • die Überwachung und die hierfür verantwortliche Stelle nicht offenbart werden;
  • die unverzügliche Löschung nicht vorgesehen und/oder nicht erfolgt ist;
  • der Informationspflicht nicht nachgekommen wird.

Bei Zweckänderungen kann der Erhebungszweck naturgemäß nicht im Voraus festgelegt werden, im Übrigen folgen die Verwertungsvoraussetzungen den Voraussetzungen, die auch für die ursprüngliche Überwachung erfüllt sein müssen.

Der Beitrag wird fortgesetzt.

 

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